„Nun schauen mich immer mindestens vier Augen an“ – Carlfriedrich Claus im Kulturhauptstadtraum Chemnitz 2025

Carlfriedrich Claus (1930 in Annaberg im Erzgebirge geboren, 1998 in Chemnitz gestorben) gilt als Solitär in der deutschen Kunstlandschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zählt zu den wichtigsten KünstlerInnen seiner Generation und seines Wirkungskreises.

2018 erschien der Briefwechsel zwischen Christa und Gerhard Wolf und Carlfriedrich Claus (Nun schauen mich immer mindestens vier Augen an: Der Briefwechsel 1971–1998, Chemnitzer Verlag). Er spiegelt den intensiven geistigen, künstlerischen und freundschaftlichen Austausch zwischen Carlfriedrich Claus und dem Autorenpaar.

In Folge dieses Publikationsprojektes entstand die Idee, Beispiele des komplexen Werkes von Claus einem breiteren Publikum in Chemnitz öffentlich zugänglich zu machen.

Schon Claus selbst ließ von seinen doppelseitig auf Transparentpapier geschriebenen Sprachblättern Vergrößerungen anfertigen und installierte sie im Raum. Diese Idee wird mit der Präsentation zweier Werke an den beiden Haltestellen am Chemnitzer Theaterplatz aufgenommen und stellt durch die räumliche Nähe eine Verbindung zu den Kunstsammlungen Chemnitz her, welche die Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv beherbergen.

Die Chemnitzer Verkehrs-AG unterstützte das Projekt von Beginn an und begleitet es vom Entwurf bis zur Herstellung.

Die beiden ausgewählten Sprachblätter stehen und sprechen für sich. Zugleich verweisen sie abermals auf die enge Beziehung von Claus zu den Wolfs.

Claus_Haltestellen_EulenspiegelCarlfriedrich Claus, Eulenspiegel-Reflex, 1964/1965, Feder, Tusche, zweiseitig auf Transparentpapier, 29,8 x 21 cm, Z 379, Kunstsammlungen Chemnitz, Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv © VG Bild-Kunst Bonn 2025, Fotomontage: Martin Hoffmann

Eulenspiegel-Reflex: Man erkennt deutlich das Antlitz des alten Eulenspiegels mit der Narrenkappe, den schelmischen Augen und einem zerfurchten Gesicht als Spiegel – die „zerstörte Spiegelung“ eröffnet an den Scherbenrändern neue Perspektiven, an denen entlang Claus seine Landschaft aus Sprachstrukturen entwickelt und damit seine gesellschaftliche Utopie formuliert. Die Figur des „weisen Narren“ faszinierte ihn, da mit ihr „Herrschaftsstrukturen in Frage gestellt wurden und Zwänge von oben bewusst von unten zerstört werden“ (Claus).

Auch Christa und Gerhard Wolf beschäftigten sich mit der Gestalt des literarischen Helden, spätestens als dem Autorenpaar Ende der 1960er-Jahre das Verfassen des Drehbuchs zu einem geplanten Eulenspiegel-Spielfilm angetragen wurde. 1971 übergaben Christa und Gerhard Wolf die vorläufige Drehbuchversion an die DEFA. 1972 erschien Till Eulenspiegel. Erzählung für den Film. Am 1. Juni 1996 hatte die Bühnenfassung der Filmerzählung Premiere am Chemnitzer Theater, der Eulenspiegel-Reflex von Claus war das Motiv für das Plakat. Wolfs waren zur Premiere anwesend, Carlfriedrich Claus konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht dabei sein.

„Ganz sicher kann man Till Eulenspiegel in verschiedene Zeiten legen […]. Man könnte ihn auch zeitlos sehen: der Narr (als Rolle, als Funktion) im Räderwerk der Geschichte … Uns interessierte von Anfang an eine Gestalt, die, aus naiven, gläubigen Anfängen sich durch Lebenserfahrung herausarbeitend, am Ende die Machtverhältnisse und Konventionen ihrer Zeit durchschaut und, bis auf den Grund ernüchtert, aber nicht resigniert, mit ihnen umzugehen, ja zu spielen weiß.“  (Christa und Gerhard Wolf, in: „Christa und Gerhard Wolf: Till Eulenspiegel“, Annegret Herzberg im Interview mit Christa und Gerhard Wolf, in: Sonntag, 14.1.1973, S. 6.)

Wie eine Art Mut machendes Maskottchen oder Bündnispartner taucht Eulenspiegel zwischen Carlfriedrich Claus und den Wolfs immer wieder auf, um in dunklen Situationen ein befreiendes Lachen auszulösen. „Eulenspiegel und Pleite sind fast synonym. Fast. Denn mitten in der Scheisse begann Eulenspiegels Gelächter,“ schrieb Carlfriedrich Claus am 24. März 1982 an Gerhard Wolf.

Claus_Haltestellen_an_Christa_WolfCarlfriedrich Claus, ohne Titel, 1979, Feder, Tusche, zweiseitig auf Transparentpapier, Z 645, Christa-und-Gerhard-Wolf-Kunststiftung am Stadtmuseum Berlin © VG Bild-Kunst Bonn 2025, Fotomontage: Martin Hoffmann

Ein Sprachblatt für Christa Wolf: Vier Augen, zwei wach die Betrachtenden anschauend, zwei konzentriert nach innen blickend, heben sich von einem schwebenden Grund aus blauen und schwarzen Denk- und Schreibspuren ab. Unter dem zentral platzierten Auge mit roter Iris werden Satzfragmente lesbar: „… energie / präsenz / (v)erdichteten schweigens im satzbau …“ – Carlfriedrich Claus widmete dieses Blatt Christa Wolf und sandte es ihr zum Geburtstag mit den Worten: „Liebe Christa, zu Deinem 18.3.79 wünsche ich Dir herzlichst Gutes, Gesundheit, Glück; für Deine Arbeit, die so wichtig ist, das, was Du in Deinem Gedankengebiet ‚Beispiele ohne Nutzanwendung’ formuliert hast: nicht loslassen. In freundschaftlicher Verbundenheit bin ich Dein Carlfriedrich“


 

Ein Projekt der Initiativgruppe „Briefwechsel zwischen Christa und Gerhard Wolf und Carlfriedrich Claus“: Katrin Wolf, Martin Hoffmann, Andrea Klein, Matthias Zwarg, Anke Paula Böttcher
in Kooperation mit und Dank an
Kunstsammlungen Chemnitz | Stiftung Carlfriedrich Claus-Archiv
https://www.kunstsammlungen-chemnitz.de/haeuser/carlfriedrich-claus-archiv/
Chemnitzer Verkehrs-AG
https://www.cvag.de/


 

Auf ein zweites Folgeprojekt möchten wir an dieser Stelle noch hinweisen:

Antlitz des Friedens
Hebräische Sprache und jüdische Kultur im Werk von Carlfriedrich Claus
Ausstellung und Publikation nach einer Idee von Gerhard Wolf
25.05.–06.09.2025
Morgner Archiv. Galerie Agricolastraße, Agricolastraße 25, 09112 Chemnitz
www.morgnerarchiv.de

 

Die Poesie der Schreibmaschine

Wir trauern um Ruth Wolf-Rehfeldt.

Sie war, ähnlich wie Carlfriedrich Claus, eine der singulären Künstlerpersönlichkeiten der DDR und später des vereinten Deutschland: Ruth Wolf-Rehfeldt. Ihre „Typewritings“ genannten Schriftstücke formten mit den Lettern einer alten Schreibmaschine „Erika“, Modell 12, subtile Wort-Bild-Werke, die sensibel und kritisch die zerrissene, gefährdete Welt spiegelten, in der sie lebte.

Geboren am 8. Februar 1932 in Wurzen, absolvierte sie von 1947 bis 1950 eine Lehre als Industriekauffrau. So wurde ihr die Schreibmaschine zum vertrauten Arbeitsmittel. 1950 zog sie nach Berlin, studierte ein Jahr lang Philosophie. 1954 lernte sie ihren späteren Mann Robert Rehfeldt kennen, den berühmten Mail-Art-Aktivisten. Über ihn wird es später auch einen Austausch mit Carlfriedrich Claus geben. Zunächst aber beginnt Ruth Wolf-Rehfeldt autodidaktisch zu malen und zu zeichnen. Sie findet eine Anstellung bei der Akademie der Künste, ab Anfang der 1970er-Jahre entwickelt sie ihre Schreibmaschinengrafiken und schreibt Gedichte. In kleinen Papierformaten, wie sie eben in die Schreibmaschine passen, baut die Künstlerin aus Buchstaben und Satzzeichen Gedankengebäude, die sich leise und nachdenklich der Welt zuwenden. So entstehen zum einen grafische Figuren zwischen Auflösung und Verdichtung, Erinnern und Vergessen, zum anderen Wortspiele, die die Welt des Kalten Krieges, der Umweltzerstörung und der Reglementierung in der DDR kritisch kommentieren. In dem Blatt „Das letzte ABC“ aus dem Jahr 1983 stehen die Buchstaben A, B und C für atomare, biologische und chemische Waffen und bilden wie im Blatt „Gefährliches Gleichgewicht“ eine fragile Balance, die immer in Gefahr ist. In zahlreichen Blättern nimmt sie Bezug auf das Verhältnis des Menschen zur Natur, zum Teil lange bevor Umweltschutz zu einem beherrschenden Thema wurde. In dem Gedicht „Zirkel“ beschreibt sie die Situation vieler Menschen in der DDR (und wohl nicht nur dort):

Ich will
        was ich will
                aber was ich will
                        kann ich nicht
Ich kann
        was ich kann
                aber was ich kann
                        soll ich nicht
Ich soll
        was ich soll
                aber was ich soll
                        muß ich nicht
Ich muß
       
was ich muß
                aber was ich muß
                        darf ich nicht
Ich darf
        was ich darf
                aber was ich darf
                        will ich nicht

Ihre Texte und Bilder sind nicht gealtert, berühren zeitlos und erinnern an die Fehlbarkeit des Menschen:

Mühsam
       wachsen
            werdende Strukturen
Doch in eingefahrne Spuren
Gleiten mühlos wir zurück.

Vielleicht war auch diese Enttäuschung über die Lernunwilligkeit der Menschen eine Ursache dafür, dass Ruth Wolf-Rehfeldt 1990 ihre künstlerische Produktion einstellte. „Ich hatte den Eindruck: Es gibt so viel Kunst, da brauche ich nicht auch noch welche machen“, erklärte sie später in einem Interview. Zudem empfand sie wohl schmerzlich, dass Kunst in der DDR einen anderen Stellenwert und eine andere Bedeutung gehabt hatte als nun auf dem freien Markt der neoliberalen, sich digitalisierenden Gesellschaft. So konsequent sie zuvor meist in den Abendstunden, neben ihrer Brotarbeit, an der Schreibmaschine saß, so konsequent ließ sie die nun unberührt.

Ruth Wolf-Rehfeldt bestritt bis 1989 zahlreiche Ausstellungen, in der DDR, aber auch in Polen, Ungarn und Schweden. Ihre Arbeiten wurden weltweit gesammelt, doch war sie nur Eingeweihten bekannt. Zwar ist sie 2005 in Chemnitz in der großen Ausstellung „Schrift, Zeichen, Geste: Carlfriedrich Claus im Kontext von Klee bis Pollock“ vertreten, doch wiederentdeckt wird sie erst 2012, als das Museum für Moderne Kunst Bremen ihre eine große Retrospektive widmet. 2017 wird sie zur Documenta eingeladen, 2021 erhält sie den Gerhard-Altenbourg-Preis, 2022 den Hannah-Höch-Preis für ihr Lebenswerk. 2023 widmet ihr das Das Minsk Kunsthaus in Potsdam eine Ausstellung. Am 26. Februar ist Ruth Wolf-Rehfeldt 92-jährig in Berlin-Buch gestorben, wie ihre Galerie ChertLüdde mitteilte. In ihrer Schreibmaschinenkunst wird sie unter uns bleiben – auch dann noch, wenn es längst keine Schreibmaschinen mehr gibt.

Matthias Zwarg, 28.02.2024

Silvia Nettekoven, Now is life

Now is life very solid or very shifting?

„Now is life very solid or very shifting?“ – mit dem fragenden Zitat aus Virginia Woolfs Tagebüchern, das titelgebend für Silvia Nettekovens Projekt ist, beschreibt die Künstlerin mit den Worten der Autorin zwei mentale Aggregatzustände, die programmatisch die Grundfragen ihrer künstlerischen Forschung markieren.
Gesten als archaisches und vielfältiges Kommunikationsmittel stellen starke, feste Setzungen dar, die oftmals nicht oder nur beiläufig wahrgenommen, noch seltener im Alltäglichen reflektiert werden. An diesem Punkt setzt Nettekovens Arbeit ein: Sie bricht das allzu Verfestigte, Starre auf, verflüssigt es, macht es transparent, macht sich selbst durchlässig, beginnt aufmerksam zu werden. Dies setzt ein hohes Maß an Sensibilität voraus, die sich nicht nur auf Selbstwahrnehmung beschränkt.
Die Beobachtung sowie das Aufzeichnen der eigenen Gesten beim Aufwachen und die Wiederbegegnung mit ihnen in der Antikensammlung setzte einen Prozess in Gang, der nicht um die scheinbaren Widersprüche von „flüssig“ und „fest“ mäandert, sondern bei dem eins ins andere übergeht und symbiotisch ein immer komplexeres Bild von Zusammenhängen in Zeit und Raum erschafft.
Hinter alledem stehen Nettekovens Fähigkeiten zu staunen, zu beobachten, zu fragen, Bögen vom ‘Eigenen‘ zum ‚Anderen’ zu spannen und ihr fester Wille, den für sie dringenden Fragen auf den Grund zu gehen und mit Vehemenz und Konsequenz dieses offene, interdisziplinäre Projekt zu verwirklichen, dessen erstes Ergebnis mit Ausstellung und Publikation nun vorliegen.

Wer glaubt nach den vorliegenden Ergebnissen noch an zufällige Koinzidenzen? Wie kann es sein, dass bestimmte Gesten in der Antike so oft künstlerisch dargestellt wurden und demzufolge eine existentielle Bedeutung haben und ein Narrativ bedienen, das von vielen verstanden wurde? Und dass diese Gesten heute verschwunden sind? Sind sie es wirklich? Wie gelangt der aktuelle Sechser des FC Bayern, Joshua Kimmich, in ein Buch mit beispielsweise dem ägyptischen Vorlesepriester Imen-em achet aus der 12. Dynastie und vielen anderen Artefakten, die weit in die vorchristliche Zeit zurückweisen?
Den genauen Beobachtungen der eigenen Gesten beim Aufwachen und den gefundenen kulturgeschichtlichen Übereinstimmungen folgte eine akribische Systematisierung. Minutiöse Recherchen und umfassende Lektüren werden ergänzt durch Gespräche mit Personen, die aus anderer Perspektive die Thematik berühren, sei es die wissenschaftliche Arbeit über die antike Geschichte und Kultur, Expertisen aus der Psychologie, seien es Zugänge über die Arbeit mit dem Körper wie Tanz oder Yoga, sei es der Dialog mit Künstlerkolleg:innen. In letzter oder aktuellster Instanz und sehr originell, stellt die Künstlerin ihre Fragen an ChatGPT – und erhält auch von dort Antwort.

Immer stellt Silvia Nettekoven die gleichen Fragen, umso reizvoller ist die Varianz der Reaktionen. Unverständnis gibt es nicht, das Thema wird begeistert aufgegriffen und mit den jeweils eigenen Erfahrungen und dem jeweils eigenen Wissen angereichert und verhandelt.
Aus den Antworten setzt sich wie ein Mosaik ein komplexes Bild der Dringlichkeit der Fragen zusammen ebenso wie die sich verfestigende Vermutung, dass „alles mit allem verbunden ist“.

In der aufwendigen wie virtuosen zeichnerischen Anverwandlung der historischen Artefakte und der Kombination mit den Visualisierungen der eigenen Gesten teilt die Künstlerin ihre Überlegungen mit uns und macht sie sinnlich und intellektuell erfahrbar. Jenseits aller Selbstbezüglichkeit weitet sie Zeit und Raum, schaut umfassend auf Welt, Kultur, Geschichte, gräbt sich tief in deren verborgene Schichten und entbirgt sie im Jetzt. Mit einer großzügigen Geste lässt sie uns teilhaben am eigenen Staunen, am Fragen und am erlangten Wissen über Gesten, die als zeitlose, zutiefst menschliche kulturelle Zeichen bis heute präsent sind und die uns jenseits von konventioneller Sprache und deren Barrieren über mentale Zustände Auskunft geben können. Silvia Nettekoven geht es dabei um Sensibilisierung der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung in einer Zeit, in der die Menschen alles andere als sensibel miteinander und mit sich selbst umgehen.

Anke Paula Böttcher, September 2022

Die Berliner Künstlerin Silvia Nettekoven im Interview mit dem Weddingweiser „über das Antike in uns“

Ein allerbester, guter Freund

Er war Schriftsteller, Essayist, Verleger, Kurator – vor allem aber war ein selbstloser Freund und Förderer von Schriftstellern und Künstler, die es ohne ihn schwerer gehabt hätten. Zum Tod von Gerhard Wolf.

Von Matthias Zwarg

Wieder solch ein Verlust. In vielen Arbeitszimmern und Ateliers wird getrauert werden um einen Menschen, dessen größtes Talent es wohl war, Talente in anderen Menschen zu erkennen, zu fördern und zu begleiten.

Die Literatur- und Kunstlandschaft, nicht nur im Osten Deutschlands, sähe anders aus ohne ihn. Wer weiß, was aus Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie Sarah Kirsch, Volker Braun, Adolf Endler, Jan Faktor, Karl Mickel, Andreas Reimann, dem Künstlerphilosophen Carlfriedrich Claus, später dann Bert Papenfuß-Gorek, Gabriele Stötzer geworden wäre, wenn sich Gerhard Wolf nicht für die Veröffentlichungen und Verbreitung ihrer Werke eingesetzt hätte? Selbst die Karriere seiner berühmten Frau Christa Wolf, deren erster und kritischster Leser er immer war, hätte anders verlaufen können.

Gerhard Wolf wuchs in Deutschlands dunkelsten Jahren auf. Geboren am 16. Oktober 1928 in Bad Frankenhausen, Vater Buchhalter, die Mutter, als er zehn Jahre alt war. Der faschistische Krieg unterbrach seine Schulausbildung, 1944/45 wurde er noch als Flakhelfer eingesetzt, geriet in amerikanische Gefangenschaft. Nach der Entlassung schloss er das Gymnasium 1947 mit dem Abitur ab, war danach erst einmal Neulehrer in Thüringen. Von 1949 bis 1951 studierte er Germanistik und Geschichte in Jena, später noch einmal von 1953 bis 1956 in Berlin. Da hatte Gerhard Wolf schon erste Berufserfahrungen als Rundfunkredakteur in Leipzig und Berlin gesammelt. Ab 1957 arbeitete er als Schriftsteller, Drehbuchautor, Essayist, Kritiker, vor allem aber als Lektor beim Mitteldeutschen Verlag in Halle/Saale. So erlebte er auch die Auseinandersetzungen um den Roman „Nachdenken über Christa T.“ seiner Frau Christa – sie hatten 1951 geheiratet – mit, der 1968 erschien und von der DDR-Kulturpolitik heftig angegriffen wurde. In Halle hatte das Ehepaar Wolf auch den damals selbst attackierten Maler Willi Sitte kennengelernt und sich seitdem intensiver mit zeitgenössischer Kunst beschäftigt, gesammelt und propagiert.

Doch wie so viele, die nach dem Zweiten Weltkrieg ehrlichen Herzens im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands eine andere, friedliche, sozialistische Gesellschaft aufbauen wollten, lernte auch Gerhard Wolf bald die Grenzen des Möglichen kennen, die eine sich zunehmend von den Menschen und ihrer Lebenswirklichkeit entfernende SED-Bürokratie setzte. Einer der Tiefpunkte kam sicher 1976 seine Unterschrift unter die Resolution, mit der DDR-Kulturschaffende gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierten. Danach wurde Gerhard Wolf aus der SED ausgeschlossen, der er seit 1946 angehört hatte. Die Staatssicherheit beobachtete das Ehepaar Wolf schon seit 1969. Doch weggehen kam für ihn wie auch für seine Frau nicht in Frage. Gerhard Wolf kämpfte weiter auf seine stille, freundliche, aber auch beharrliche und konsequente Art darum, dass originelle und kritische Stimmen in der Literatur und Kunst ihren Platz bekamen.

Ins damalige Karl-Marx-Stadt und nach Chemnitz hatte Gerhard Wolf immer besondere Beziehungen. Carlfriedrich Claus hatten die Wolfs schon 1971 kennengelernt – Gerhard Wolf: „Das war eine Initialzündung für mich.“ – später konnte der einzigartige Sprach- und Denkkünstler Claus einige seiner berühmten Mappenwerke in Gerhard Wolfs Janus-Press-Verlag veröffentlichen. Über Claus lernte Gerhard Wolf auch die Künstlergruppe Clara Mosch kennen, die er lebenslang schätzte. Noch vor wenigen Monaten lobte er Thomas Ranft als „einen der besten, wenn nicht den besten Radierer der DDR“ und würdigte die Entwicklung der Clara-Mosch-Künstler, die „zu einem großen Befreiungsschlag nach allen Richtungen“ ausgeholt hätten, „der ihnen auch gelang“. Wer Gerhard Wolf mit Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit überzeugt hatte, dem war er ein lebenslanger allerbester guter Freund. Es gibt nicht mehr viele solcher Menschen – wissend und einfühlsam, selbstlos und konsequent. Er fühlte sich nie „im Schatten“ seiner Frau, er wirkte auf seine Art und wurde und wird dafür geschätzt und geliebt. Am Dienstag ist Gerhard Wolf im Alter von 94 Jahren in Berlin gestorben, wie die Familie mitteilte. Für ihn werden viele Kerzen in vielen Fenstern brennen. Er wird auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof neben Christa Wolf beerdigt.

Günter Peters, Länder des Lächelns

Für eine friedliche Welt mit „Ländern des Lächelns“!

Nahezu schicksalhaft mutet die Neuerscheinung „Länder des Lächelns. Stücke für Tonband“ von Günter Peters bei Eine Art Fabrik an. Erschienen nur wenige Tage vor dem Einmarsch russischen Militärs in die Ukraine, ist mittlerweile allen Ländern das Lächeln vergangen.

„In Günter Peters‘ Kompositionen für Tonband […] tritt der Klang der Welt aus dem Schatten ins Licht. Es rauscht und rumort, es zuckt und es zischt, es rattert und schnattert, es jammert und klagt, es fiept und funkt, schillert und scherzt. Menschliche Stimmen, verzerrt, verfremdet, mischen sich mit technischen Klängen. Die Klang-Welt ist in Aufruhr wie die wirkliche Welt.“ (Matthias Zwarg im beiliegenden Booklet)

So erhören wir die Stücke LeSon, Ici Bagdad, Schakal und Länder des Lächelns als „Klanggestalten, […] Klanggemälde, [welche] die Welt selbst und unser Nachdenken über die Welt in aller Widersprüchlichkeit ver- und damit beton[en]“ (Matthias Zwarg).

Der in den 1970er-Jahren entstandene „akustische Palimpsest“ Länder des Lächelns nimmt die Hörer:innen mit auf eine „Reise durch vier Epochen deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert hören, aber auch der Krieg zwischen E- und U-Musik, zwischen Tradition und Avantgarde, Musik und Text, Kitsch und Kunst wird darin ausgetragen“. (Günter Peters)

„Zur Welt, zu unseren Welten wie zum menschlichen Leben fügen sich unendlich viele Schichten aus Erinnerungen an die Vergangenheit, Erfahrungen in der Gegenwart und Erwartungen an die Zukunft. Diese Schichten kommunizieren miteinander, erzeugen Reibungen, Konflikte, Interferenzen – Klänge. Sie sind von einer – im Sinne der Worte – unerhörten Komplexität. Günter Peters macht sie hörbar.“ (Matthias Zwarg)

In unserer unmittelbaren Gegenwart sind seine vielschichtigen und komplexen Stücke gleichsam als akustische Statements wahrzunehmen, die gegen „Kriegsgeschrei und Zerstörungslust auf allen Seiten“ klangliche Stimmen erheben, für eine friedliche Welt mit Ländern des Lächelns!

Die Präsentation des CD-Doppelalbums in Anwesenheit von Günter Peters findet am 1. April 2022, um 20 Uhr im Kulturzentrum Weltecho in Chemnitz statt.

Günter Peters, Länder des Lächelns

Vom Sterben der Vögel im Winter. Zum Tod von Ilse Garnier

Es ist eine ihrer zartesten, berührendsten Arbeiten: Die Mappe „Winterlandschaft mit Vögeln“ erzählt in wenigen schwarzen und weißen Strichen und Worten auf blauem Grund vom Sterben der Vögel im Winter. Sensibel, aufs Äußerste reduziert, er-innert Ilse Garnier in diesen Blättern an das Leben und Sterben, an Einsamkeit und Vergänglichkeit, an Kälte und Tod „in der Weite ungastlicher Felder“ – so der Name eines Blattes.

In die „ungastlichen Felder“ der Welt wird sie als Ilse Göttel 1927 in Kaiserslautern geboren. Sie studiert Sprachen und Literatur in Mainz und Paris, arbeitet als Schriftstellerin, Künstlerin und Übersetzerin. Sie veröffentlicht zur französischen, vor allem von Frauen geschriebenen Literatur. An der Pariser Sorbonne begegnet sie dem Schriftsteller und Künstler Pierre Garnier. Sie heiraten 1952. Beide sind sie geprägt von einer Kindheit und Jugend im Krieg, werden konfrontiert mit Unmenschlichkeit und Barbarei, sehen dadurch auch die traditionelle Sprache und Literatur kompromittiert, nennen ihre Arbeiten „spatiale Poesie“ als eine Form der experimentellen Poesie, die ohne Symbole und Metaphern auskommt, für sich selbst spricht.

Fast zwangsläufig mussten Ilse und Pierre Garnier dem in Annaberg lebenden Carlfriedrich Claus (1930–1998) begegnen, der mit seinen Sprachblättern ebenfalls an einer neuen Form der Kunst als Möglichkeit der Selbsterkenntnis und damit Erkenntnis der Welt und ihrer Veränderung zum Menschlichen, Friedlichen, Solidarischen hin arbeitete.

Viele künstlerische Arbeiten hat Ilse gemeinsam mit ihrem Mann Pierre Garnier geschaffen, so einen Zyklus über Jeanne d’Arc, poetische Blätter zur Verbindung von Poesie und Architektur. In ihren eigenen Werken ist sie noch reduzierter. Fast zärtlich beschreibt sie einen „traurigen Garten“ oder wie man „im Grase ausgestreckt die Bücher des Himmels lesen“ kann. Ihre Kunst zielt darauf, behutsam die Welt zu erkunden, oh-ne dieser Welt Verletzungen zuzufügen, da sie sich doch selbst schon genügend Wunden zugefügt hat. 1987 schreibt Ilse Garnier an Claus: „So nimmt auch das Denken über und unter Tage eine besondere Bedeutung an. Was in der Tiefe entstanden ist, ans Licht heben, aber auch sich immer unbedingter Tiefe aussetzen, glühen. Dieses über und unter Tage, dem Erzgebirge verhaftet, vielleicht eine Lebenskonstante … für mich eine Schaffenskonstante …“.

Am 4. Mai 1995, in einem der letzten Briefe an Carlfriedrich Claus, beklagt Pierre Garnier: „… dieses Ende des Jahr-hunderts, des Jahrtausends, es ist erschöpft. Es scheint, dass die Menschen nur noch banale Bilder im Kopf haben – keine Gedanken, keine Ideen mehr.“ Gegen die Gedankenlosigkeit hat auch Ilse Garnier ihr Leben lang gearbeitet – leise, behutsam, zärtlich. Wie ihre Tochter mitteilte, ist Ilse Garnier am Montag nach langer Krankheit gestorben – wie die Vögel … im Winter.

Matthias Zwarg

ilse garnier, aus: winterlandschaft mit vögeln
Ilse Garnier, Aus der Mappe „Winterlandschaft mit Vögeln“

 

 

Propagandamaterial KaiSaR (Band)

Zur Fête de la Musique 2019 – KaiSaR Live in Berlin

Die Kulturpropagandadivision des sowjetischen Reiches ist erfreut die neue Veröffentlichung der elektroakustischen, progressiven Staatskapelle KaiSaR anzukündigen. “but where is the audience” ist eine 2 Compact Disc umfassende Sammlung im eroberten Berlin aufgenommener Hymnen. Lang lebe Zar Dimitri III. Die Veröffentlichung erfolgt am internationalen Tag der Musik zur Freude aller friedliebenden Völker – 21. Juni 2019 {Gregorianischer Kalender}.

The soviet empire cultural propaganda division is delighted to announce the release of the new 2 disc set titled “but where is the audience” by progressive state run electro acoustic orchestra KaiSaR. Long live Czar Dmitri III! the release will be broadcast nationwide on the international day of music (or as the decadent western media calls it “Fête de la Musique”) on June 21st 2019 {Gregorian calendar}

Lesung „Herrengarten“, 18. März 2019

Wir freuen uns, eine Lesung des Autoren Ralph Findeisen gemeinsam mit Guido Lambrecht (Schauspiel Potsdam) am 18. März (Mo) im Literaturladen Wist in Potsdam anzukündigen und laden alle Interessierten herzlich dazu ein. Vorgestellt wird der Roman „Herrengarten“, der Ende der 1990er-Jahre entstand und 2018 in unserem Verlag erschien.

LESUNG
Ralph Findeisen
Gast: Guido Lambrecht (Schauspiel Potsdam)
„Herrengarten“ (Roman)
18. März (Mo), 19 Uhr
Wist – Der Literaturladen
Dorfstraße 17 (Eingang Brandenburger Straße), 14467 Potsdam
0331/2800452
Eintritt: 5 Euro

https://derliteraturladen.buchhandlung.de

https://www.ralphfindeisen.de/herrengarten


Foto von Karin Wieckhorst

In Memoriam KHS – Klaus Hähner-Springmühl – Film und Buch

Angesichts der Ausstellung

“Richterstraße 9”
Hommage an Klaus Hähner-Springmühl

2013/14 in der Galerie Pankow hat ebenjene einen kleinen Film realisiert, den wir hier vorstellen möchten:

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Abs.: Klaus Hähner-Springmühl – Richterstraße 9
Film-Essay / 2014 / 14:30 min. / HD
Konzept, Schnitt & Musik: Enkidu rankX
Produktion: Galerie Pankow / Einheit_7 e.V.
Interviewpartner: Thomas Florschuetz, Eckhart Gillen, Joerg Waehner, Karin Wieckhorst
Kofinanzierung: Bezirkskulturfonds Pankow

Ebenso hat die Galerie Pankow einen Katalog zur Ausstellung herausgegeben, der über die Galerie zu beziehen ist:

Foto von Karin Wieckhorst
aus der Serie “Richterstr.9”, Karin Wieckhorst

Richterstraße 9 – Hommage an Klaus Hähner-Springmühl
Herausgeber: Galerie Pankow / Kunstsammlungen Chemnitz – 2013
83 Seiten / Preis: 12,00 €
MIt Beiträgen von Annette Tietz, Anke Paula Böttcher, Klaus Werner, Eckhart J. Gillen, Joerg Wähner

Unsere Publikation zu Gitte und Klaus Hähner-Springmühl
kann hier bestellt werden:

Buchcover Roman

Neuerscheinung: Ralph Findeisen „Herrengarten“

Endlich erschienen!

Ralph Findeisens HERRENGARTEN …

Das Jahrhundert der Liebe und ihre Spiegelungen, Film noir und postmoderne Dekonstruktion. Der Roman HERRENGARTEN entwirft ein einzigartiges Psychogramm der Nachwendezeit, Mitte der 90er Jahre. Verhandelt werden Irrtümer und Träume, sozialer Status und fragile Geschlechterrollen. Ost und West begegnen sich in Hamburg und der Provinz. Ein Buch über Manipulationen und selbsterfüllte Prophezeiungen. Ein literarisches Ereignis!