Vom Sterben der Vögel im Winter. Zum Tod von Ilse Garnier

Es ist eine ihrer zartesten, berührendsten Arbeiten: Die Mappe „Winterlandschaft mit Vögeln“ erzählt in wenigen schwarzen und weißen Strichen und Worten auf blauem Grund vom Sterben der Vögel im Winter. Sensibel, aufs Äußerste reduziert, er-innert Ilse Garnier in diesen Blättern an das Leben und Sterben, an Einsamkeit und Vergänglichkeit, an Kälte und Tod „in der Weite ungastlicher Felder“ – so der Name eines Blattes.

In die „ungastlichen Felder“ der Welt wird sie als Ilse Göttel 1927 in Kaiserslautern geboren. Sie studiert Sprachen und Literatur in Mainz und Paris, arbeitet als Schriftstellerin, Künstlerin und Übersetzerin. Sie veröffentlicht zur französischen, vor allem von Frauen geschriebenen Literatur. An der Pariser Sorbonne begegnet sie dem Schriftsteller und Künstler Pierre Garnier. Sie heiraten 1952. Beide sind sie geprägt von einer Kindheit und Jugend im Krieg, werden konfrontiert mit Unmenschlichkeit und Barbarei, sehen dadurch auch die traditionelle Sprache und Literatur kompromittiert, nennen ihre Arbeiten „spatiale Poesie“ als eine Form der experimentellen Poesie, die ohne Symbole und Metaphern auskommt, für sich selbst spricht.

Fast zwangsläufig mussten Ilse und Pierre Garnier dem in Annaberg lebenden Carlfriedrich Claus (1930–1998) begegnen, der mit seinen Sprachblättern ebenfalls an einer neuen Form der Kunst als Möglichkeit der Selbsterkenntnis und damit Erkenntnis der Welt und ihrer Veränderung zum Menschlichen, Friedlichen, Solidarischen hin arbeitete.

Viele künstlerische Arbeiten hat Ilse gemeinsam mit ihrem Mann Pierre Garnier geschaffen, so einen Zyklus über Jeanne d’Arc, poetische Blätter zur Verbindung von Poesie und Architektur. In ihren eigenen Werken ist sie noch reduzierter. Fast zärtlich beschreibt sie einen „traurigen Garten“ oder wie man „im Grase ausgestreckt die Bücher des Himmels lesen“ kann. Ihre Kunst zielt darauf, behutsam die Welt zu erkunden, oh-ne dieser Welt Verletzungen zuzufügen, da sie sich doch selbst schon genügend Wunden zugefügt hat. 1987 schreibt Ilse Garnier an Claus: „So nimmt auch das Denken über und unter Tage eine besondere Bedeutung an. Was in der Tiefe entstanden ist, ans Licht heben, aber auch sich immer unbedingter Tiefe aussetzen, glühen. Dieses über und unter Tage, dem Erzgebirge verhaftet, vielleicht eine Lebenskonstante … für mich eine Schaffenskonstante …“.

Am 4. Mai 1995, in einem der letzten Briefe an Carlfriedrich Claus, beklagt Pierre Garnier: „… dieses Ende des Jahr-hunderts, des Jahrtausends, es ist erschöpft. Es scheint, dass die Menschen nur noch banale Bilder im Kopf haben – keine Gedanken, keine Ideen mehr.“ Gegen die Gedankenlosigkeit hat auch Ilse Garnier ihr Leben lang gearbeitet – leise, behutsam, zärtlich. Wie ihre Tochter mitteilte, ist Ilse Garnier am Montag nach langer Krankheit gestorben – wie die Vögel … im Winter.

Matthias Zwarg

ilse garnier, aus: winterlandschaft mit vögeln
Ilse Garnier, Aus der Mappe “Winterlandschaft mit Vögeln”