Silvia Nettekoven, Now is life

Now is life very solid or very shifting?

„Now is life very solid or very shifting?“ – mit dem fragenden Zitat aus Virginia Woolfs Tagebüchern, das titelgebend für Silvia Nettekovens Projekt ist, beschreibt die Künstlerin mit den Worten der Autorin zwei mentale Aggregatzustände, die programmatisch die Grundfragen ihrer künstlerischen Forschung markieren.
Gesten als archaisches und vielfältiges Kommunikationsmittel stellen starke, feste Setzungen dar, die oftmals nicht oder nur beiläufig wahrgenommen, noch seltener im Alltäglichen reflektiert werden. An diesem Punkt setzt Nettekovens Arbeit ein: Sie bricht das allzu Verfestigte, Starre auf, verflüssigt es, macht es transparent, macht sich selbst durchlässig, beginnt aufmerksam zu werden. Dies setzt ein hohes Maß an Sensibilität voraus, die sich nicht nur auf Selbstwahrnehmung beschränkt.
Die Beobachtung sowie das Aufzeichnen der eigenen Gesten beim Aufwachen und die Wiederbegegnung mit ihnen in der Antikensammlung setzte einen Prozess in Gang, der nicht um die scheinbaren Widersprüche von „flüssig“ und „fest“ mäandert, sondern bei dem eins ins andere übergeht und symbiotisch ein immer komplexeres Bild von Zusammenhängen in Zeit und Raum erschafft.
Hinter alledem stehen Nettekovens Fähigkeiten zu staunen, zu beobachten, zu fragen, Bögen vom ‘Eigenen‘ zum ‚Anderen’ zu spannen und ihr fester Wille, den für sie dringenden Fragen auf den Grund zu gehen und mit Vehemenz und Konsequenz dieses offene, interdisziplinäre Projekt zu verwirklichen, dessen erstes Ergebnis mit Ausstellung und Publikation nun vorliegen.

Wer glaubt nach den vorliegenden Ergebnissen noch an zufällige Koinzidenzen? Wie kann es sein, dass bestimmte Gesten in der Antike so oft künstlerisch dargestellt wurden und demzufolge eine existentielle Bedeutung haben und ein Narrativ bedienen, das von vielen verstanden wurde? Und dass diese Gesten heute verschwunden sind? Sind sie es wirklich? Wie gelangt der aktuelle Sechser des FC Bayern, Joshua Kimmich, in ein Buch mit beispielsweise dem ägyptischen Vorlesepriester Imen-em achet aus der 12. Dynastie und vielen anderen Artefakten, die weit in die vorchristliche Zeit zurückweisen?
Den genauen Beobachtungen der eigenen Gesten beim Aufwachen und den gefundenen kulturgeschichtlichen Übereinstimmungen folgte eine akribische Systematisierung. Minutiöse Recherchen und umfassende Lektüren werden ergänzt durch Gespräche mit Personen, die aus anderer Perspektive die Thematik berühren, sei es die wissenschaftliche Arbeit über die antike Geschichte und Kultur, Expertisen aus der Psychologie, seien es Zugänge über die Arbeit mit dem Körper wie Tanz oder Yoga, sei es der Dialog mit Künstlerkolleg:innen. In letzter oder aktuellster Instanz und sehr originell, stellt die Künstlerin ihre Fragen an ChatGPT – und erhält auch von dort Antwort.

Immer stellt Silvia Nettekoven die gleichen Fragen, umso reizvoller ist die Varianz der Reaktionen. Unverständnis gibt es nicht, das Thema wird begeistert aufgegriffen und mit den jeweils eigenen Erfahrungen und dem jeweils eigenen Wissen angereichert und verhandelt.
Aus den Antworten setzt sich wie ein Mosaik ein komplexes Bild der Dringlichkeit der Fragen zusammen ebenso wie die sich verfestigende Vermutung, dass „alles mit allem verbunden ist“.

In der aufwendigen wie virtuosen zeichnerischen Anverwandlung der historischen Artefakte und der Kombination mit den Visualisierungen der eigenen Gesten teilt die Künstlerin ihre Überlegungen mit uns und macht sie sinnlich und intellektuell erfahrbar. Jenseits aller Selbstbezüglichkeit weitet sie Zeit und Raum, schaut umfassend auf Welt, Kultur, Geschichte, gräbt sich tief in deren verborgene Schichten und entbirgt sie im Jetzt. Mit einer großzügigen Geste lässt sie uns teilhaben am eigenen Staunen, am Fragen und am erlangten Wissen über Gesten, die als zeitlose, zutiefst menschliche kulturelle Zeichen bis heute präsent sind und die uns jenseits von konventioneller Sprache und deren Barrieren über mentale Zustände Auskunft geben können. Silvia Nettekoven geht es dabei um Sensibilisierung der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung in einer Zeit, in der die Menschen alles andere als sensibel miteinander und mit sich selbst umgehen.

Anke Paula Böttcher, September 2022

Die Berliner Künstlerin Silvia Nettekoven im Interview mit dem Weddingweiser “über das Antike in uns”